
Zusatzprotokoll I
Zusatzprotokoll vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte
Das erste Zusatzprotokoll erweitert den Begriff des bewaffneten Konflikts, indem neu auch der Kampf von Völkern gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regimes, gestützt auf das Recht auf Selbstbestimmung, darunter zu verstehen ist (Art. 1 Abs. 4 ZP I).
vom 8. Juni 1977
Präambel
Die Hohen Vertragsparteien,
den ernsthaften Wunsch bekundend, dass unter den Völkern Friede herrschen möge,
eingedenk dessen, dass jeder Staat im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen2 die Pflicht hat, in seinen internationalen Beziehungen jede gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen, unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen,
jedoch im Bewusstsein der Notwendigkeit, die Bestimmungen zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte neu zu bestätigen und weiterzuentwickeln und die Massnahmen zu ergänzen, die ihre Anwendung stärken sollen,
ihrer Überzeugung Ausdruck verleihend, dass weder dieses Protokoll noch die Genfer Abkommen vom 12. August 19493 so auszulegen sind, als rechtfertigten oder erlaubten sie eine Angriffshandlung oder sonstige mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von Gewalt,
und erneut bekräftigend, dass die Bestimmungen der Genfer Abkommen vom 12. August 1949 und dieses Protokolls unter allen Umständen uneingeschränkt auf alle durch diese Übereinkünfte geschützten Personen anzuwenden sind, und zwar ohne jede nachteilige Unterscheidung, die auf Art oder Ursprung des bewaffneten Konflikts oder auf Beweggründen beruht, die von den am Konflikt beteiligten Parteien vertreten oder ihnen zugeschrieben werden,
sind wie folgt übereingekommen:
Teil 1 Allgemeine Bestimmungen
Art. 1
Allgemeine Grundsätze und Anwendungsbereich
- Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, dieses Protokoll unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen.
- In Fällen, die von diesem Protokoll oder anderen internationalen Übereinkünften nicht erfasst sind, verbleiben Zivilpersonen und Kombattanten unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts, wie sie sich aus feststehenden Gebräuchen, aus den Grundsätzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergeben.
- Dieses Protokoll, das die Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zum Schutz der Kriegsopfer ergänzt, findet in den Situationen Anwendung, die in dem diesen Abkommen gemeinsamen Artikel 2 bezeichnet sind.
- Zu den in Absatz 3 genannten Situationen gehören auch bewaffnete Konflikte, in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regimes in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen, wie es in der Charta der Vereinten Nationen und in der Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist.
Art. 2
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieses Protokolls
- bedeutet «I. Abkommen», «II. Abkommen», III. Abkommen» und «IV. Abkommen» jeweils das Genfer Abkommen vom 12. August 19494 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, das Genfer Abkommen vom 12. August 19495 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, das Genfer Abkommen vom 12. August 19496 über die Behandlung der Kriegsgefangenen und das Genfer Abkommen vom 12. August 19497 über den Schutz der Zivilpersonen in Kriegszeiten; «die Abkommen» bedeutet die vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zum Schutz der Kriegsopfer;
- bedeutet «Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren Völkerrechts» die in bewaffneten Konflikten anwendbaren Regeln, die in internationalen Übereinkünften verankert sind, denen die am Konflikt beteiligten Parteien als Vertragsparteien angehören, sowie die allgemein anerkannten Grundsätze und Regeln des Völkerrechts, die auf bewaffnete Konflikte anwendbar sind;
- bedeutet «Schutzmacht» einen neutralen oder anderen nicht am Konflikt beteiligten Staat, der von einer am Konflikt beteiligten Partei benannt, von der gegnerischen Partei anerkannt und bereit ist, die in den Abkommen und diesem Protokoll einer Schutzmacht übertragenen Aufgaben wahrzunehmen;
- bedeutet «Ersatzschutzmacht» eine Organisation, die anstelle einer Schutzmacht nach Artikel 5 tätig wird.